Warum der 11. Januar 1919 uns heute noch etwas angeht

Am 11. Januar 1919 starben sieben Männer auf dem Dragonerareal. Sie starben nicht einfach – sie wurden grausam misshandelt, bevor man sie erschoss. Sie starben bei dem Versuch, ein Blutvergießen an 200 bis 300 Menschen zu verhindern, die seit sechs Tagen das sozialdemokratische „Vorwärts“-Druckhaus besetzt hielten. Seit dem frühen Morgen des 11. Januar hatten Regierungstruppen damit begonnen, das damals hinter dem Rondell des Halleschen Tores gelegene Gebäude mit Artillerie und Maschinengewehren zu beschießen. Die Vorderfront des Gebäudes war bereits in Teilen zerstört, Brände griffen um sich. Die sieben Männer waren Parlamentäre, unbewaffnete Verhandler, die weiße Papierfahnen schwenkend auf die Angreifer zugegangen waren.

Sie waren zwischen 20 und 30 Jahre alt und hatten sehr unterschiedliche Berufe, wobei – nicht untypisch für die tragenden Akteure der Novemberrevolution in Berlin – die Metallfacharbeiter unter ihnen überwogen:

Wolfgang Fernbach, 29, Redakteur
Karl Grubusch, 28, Mechaniker
Walter Heise, 24, Schmied
Erich Kluge, 23, Kutscher
Werner Möller, 30, Klempner und Dichter
Arthur Schöttler, 25, Werkzeugmacher
Paul Wackermann, 29, Schlosser

Die damals so bezeichneten Januar-Unruhen im Berliner Zeitungsviertel und insbesondere die Besetzung des Vorwärts stellten ein Aufbäumen der linken Strömungen in der Berliner Arbeiterschaft gegen das Bündnis der mehrheits-sozialdemokratischen Regierung mit antirevolutionären Truppenresten und gerade entstehenden Freikorps im ersten Zyklus der deutschen Novemberrevolution 1918 dar. Das insbesondere der Vorwärts im Zentrum der Besetzungen stand, war kein Zufall. Im Zentralorgan der SPD war die linke Opposition bereits seit dem 24. Dezember als „Verbrecher“ etikettiert worden, als „Wirrköpfe“, die „in der Aufrichtung einer asiatischen Hunger- und Schreckensherrschaft ihr Ziel erblicken“1. Damit wurde ein Ton gesetzt, der in den Januartagen wechselseitig eskaliert wurde, bis Friedrich Ebert am 8. Januar im Kabinett verkündete, dass „die Stunde der Abrechnung naht“, und bis die Regierung am 10. Januar den Aufruf plakatierte, Berlin militärisch von der „Spartakus-Gewaltherrschaft“ zu befreien.

Am 11. Januar waren die Ausführenden der politischen Morde auf dem Dragonerareal dann Offiziere und Soldaten des „Regiment Potsdam“ (später „Freikorps Potsdam“), das den Auftrag zum Sturm des Vorwärts erhalten hatte. Ihr Kommandeur, Major Franz von Stephani, berief sich auf eine angebliche Order aus der Reichskanzlei, als er bereits am Vorabend der Militäraktion an seine Soldaten die Losung ausgab, dass „alles, was aus dem Vorwärts kommt, zu erschießen sei“2. Die grausame Durchführung der Morde – noch eine Stunde später wurde so oft auf die Leichname geschossen, dass die Identifizierung später schwerfiel – zeigt eine enorme Menge akkumulierten Hasses. Dieser wird nur erklärbar, wenn man die Erzeugung von wirkungsmächtigen Zerr- und Feindbildern untersucht. Sie ermöglichten es, eine enthemmte Freund-Feind-Haltung und aktive Bürgerkriegsbereitschaft zu schaffen, sowie die Taten im Nachgang zu legitimieren. Auch juristisch blieben die Morde an den sieben Parlamentären ohne Folgen – niemand wurde je dafür verurteilt.

Einige der Zutaten für den fatalen Cocktail, der damals zusammengebraut wurde, sind heute wieder sehr bedeutsam. Besonders zu erwähnen sind die Verschwörungserzählungen, von denen damals die Dolchstoßlegende und die „Spartakus“-Erzählung dominierten. Mit Letzterer wurde eine im Grunde vielstimmige linke Opposition verkürzend und verfälschend als Erfüllungsgehilfe und Wiedergänger der bolschewistischen Revolution dämonisiert. Dies unter Nutzung der Militarisierung von Sprache und Aktionsformen, die es bei einer Minderheit der Aktivisten tatsächlich gab.
Als UpStadt e.V. interessiert uns daher, wie Verschwörungserzählungen und Hasspropaganda erzeugt werden und wie die Entwicklung von nicht mehr miteinander kommunizierenden (dialogfähigen) Teilöffentlichkeiten bis hin zur Bürgerkriegsbereitschaft verstanden und bearbeitet werden kann.

Neben der Gewaltgeschichte, die sich mit dem Dragonerareal in besonderer Weise verbindet, bieten die wenigen Wochen, die mit der Novemberrevolution begannen, eine spannende und teilweise wenig bekannte Reise in unsere Demokratiegeschichte. Die „Unruhestifter“ von damals kämpften u.a. für direkte Demokratie in Gestalt eines Rätesystems auf politischer Ebene und in den Betrieben, sowie zudem für die Sozialisierung von damals als dafür „reif“ erachteten Sektoren der Wirtschaft3. In einem völlig anderen Szenario als in den Jahren 1918/1919 interessieren uns heute Dinge, die an diese großen Themen inhaltlich anschließen. Denn auch im Ringen um eine gemeinwohlorientierte, nicht den Marktgesetzen unterworfene Entwicklung des Dragonerareals und des Rathausblocks sehen wir diese Fragen neu gestellt. Aktuell wird diese Quartiersentwicklung paritätisch auf der Grundlage einer Kooperationsvereinbarung zwischen Zivilgesellschaft und kommunalen Institutionen ausgehandelt. Weiterhin hat auch die aktuell laufende Kampagne „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“, in der es darum geht, ein Volksbegehren zu einer konkreten Sozialisierungsfrage zu erreichen, diese Themen in neuer Form auf die politische Agenda gesetzt.

1 zitiert nach Mark Jones, Am Anfang war Gewalt, S. 127. Autor war der damalige Chefredakteur Friedrich Stampfer, der am 11.1.1919 in der Dragonerkaserne anwesend war.
2 Aussage v. Stephani vor dem Untersuchungsausschuss über die Januar-Unruhen 1919 in Berlin, in Sammlung der Drucksachen der Verfassungsgebenden Preußischen Landesversammlung 1919, Drucksache Nr. 4121B, Seite 7727 (ähnlich S. 7725)
3 Die Sozialisierungsforderung war damals – ebenso wie die Abschaffung des stehenden Heeres und der Aufbau eines Volksheeres – keine minoritäre Forderung der linken Opposition. Beides fand auch auf dem sozialdemokratisch dominierten „Allgemeinen Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands“, der vom 16. bis 20.12.1918 tagte, eine große Mehrheit.